In Gedenken an Michelle:
Michelle war 17, als wir sie kennenlernten. Zwei Jahre lang durften wir sie begleiten. In dieser Zeit erfuhren wir viel von ihr: wie sie mit ihrer Krebserkrankung umging, von ihren Ängsten und auch, in welchen Momenten sie trotz der Krankheit Freude empfand. Michelle war es sehr wichtig, dass ihre Geschichte erzählt wird – auch nach ihrem Tod.
“Ich habe ein Bild für meine Krebserkrankung: Da ist eine wunderschöne Blume. Eine Rose, die so schön ist, dass man sie unbedingt haben möchte. Die Rose ist bedeckt von tausenden von Nadeln. Ein riesiger Nadelhaufen, in den du reingreifen musst, um die Rose zu pflücken. Um diese Nadeln herum sind ganz viele Hindernisse. Hindernisse, die dich jedes einzelne Mal von der Rose wegschieben. So könnte man sich das vorstellen. Dass du immer tiefer in diesen Nadelberg reingreifen musst, um wieder Glück zu fassen. Um wieder die Fröhlichkeit, die die Blume ausstrahlt, zu fassen.“
Gemeinsam mit ihrer alleinerziehenden Mutter Simone und ihrer 13jährigen Schwester Meggi wohnt Michelle in einem Mehrfamilienhaus bei Berlin. Vor vier Jahren diagnostizierten die Ärzte an der Berliner Charité einen bösartigen Weichteiltumor in ihrem Oberschenkel. Seitdem unterzog sich Michelle unzähligen Operationen und medikamentösen Behandlungen.
“Einmal schenkte mir ein Clown eine rote Clownsnase. Die liegt auf der Schrankwand in meinem Zimmer. Mich erinnert die Nase an meine Zeit der Behandlung auf Station. Ich habe schon so oft versucht, alles in eine Schublade zu schieben und wegzupacken, aber das geht nicht. Also dachte ich mir: ok, vergessen kann ich es nicht, warum soll ich mir die Erinnerungen nicht einfach irgendwie verschönern. Mit der Clownsnase kann ich das. Denn die erinnert mich an die Clowns und wie lustig und fröhlich die Begegnungen mit ihnen waren. Ja, ich versuche die schlechten Erinnerungen in etwas Gutes umzuwandeln bzw. das Positive herauszuholen. Auch wenn man schlechte Dinge erlebt hat sollte man versuchen, auch ein paar gute zu sehen. Ansonsten wird man völlig irre.
Gestern Abend haben Mama und ich lange miteinander gesprochen. Wir saßen hier auf der Couch und ich habe so sehr geweint. So sehr, dass ich mich sogar bei ihr entschuldigt habe. Mir tut das so leid, dass sie das alles durchmachen muss und dass sie wegen mir so viel hinschmeißen muss und rennen muss. Mir tut das so weh und so leid, dass meine Mutter und meine Schwester ihr Leben wegen mir so verdrehen müssen. Es ist ja eigentlich nicht wegen mir, sondern wegen dem Krebs. Manchmal weißt du nicht, ob du der Krebs bist oder ob du du bist. Das ist wie eine Art Persönlichkeitsstörung. Und du musst die ganze Zeit kämpfen.
Seit Juni 2015 habe ich Krebs. Da war ich 14. Zwei Monate später bin ich 15 geworden. 2015 wurde beim mir ein alveoläres Rhabdomyosarkom mit Metastasen im Endstadium diagnostiziert. Damals wurde mir schon gesagt, dass ich nur eine zehnprozentige Überlebenschance habe. Dann geschah ein Wunder: nach neun Monaten Chemo und parallel dazu sechs Wochen Bestrahlung ist alles weggegangen. Es waren keine Metastasen mehr zu sehen, gar nichts! Es war also alles vorbei, so dachten wir zumindest. Ich hatte dann noch acht Monate Tablettentherapie und ein paar Monate nach Beendigung hatte ich schon meinen ersten Rückfall. Ein Tumor an der linken Schulter, der rausoperiert und bestrahlt wurde. Danach war erstmal für neun Monate Schicht im Schacht. Ich war neun Monate tumorfrei und in diesen neun Monaten dachte ich wirklich, ich hätte es geschafft. Wir waren so sehr glücklich und ich war so stolz auf mich und dachte: jetzt habe ich es geschafft und bin auf dem besten Wege, gesund zu werden.
Als mein Rückfall diagnostiziert wurde, brach für mich die ganze Welt zusammen.
Doch dann kam es ganz böse. Nach diesen Monaten hat man etwas am linken Bein entdeckt. Das wurde auch rausoperiert und bestrahlt. Mit diesem zweiten Rückfall ging es dann richtig los. Drei Monate später hatte ich hinter der Blase einen Tumor und darum herum Metastasen. Drei Monate später! Der Tag der Diagnose war wirklich der schlimmste Tag in meinem ganzen Leben, der allerallerschlimmste.
Der Arzt sprach, aber ich hörte ihn kaum. Ich hatte Herzrasen, atmete total schwer und war davon überzeugt, dass ich gleich umkippen würde. Das war so schlimm. Dem Arzt tat das alles so leid und er nahm mich in den Arm. Ich weinte, ich weinte noch tagelang danach. Ich dachte wirklich, dass ich jeden Moment sterben muss. Ich konnte gar nicht darüber nachdenken, dass ich vielleicht erst in ein paar Jahren sterben werde sondern ich dachte zu dem Zeitpunkt: In ein paar Monaten werde ich tot sein. So schlimm war das. Und ich war sauer auf mich und traurig, ich war einfach – ich war nicht mehr ich.
Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich ansatzweise realisieren konnte, was der Arzt gesagt hatte. Dann dachte ich: ‚Ok. Was machst du jetzt? Wie gehst du damit um? Wie sagst du das deinen Freunden?‘ Ich behielt es bestimmt für zwei Wochen für mich. Weil ich nicht wusste, wie ich es meinen Freunden sagen sollte.
Was ich vermisse? Auf jeden Fall vermisse ich es zu arbeiten. Ich kann nicht arbeiten, ich kann nicht zur Schule gehen, ich kann mich nicht so bewegen, wie ich möchte. Denn mein Immunsystem ist zu schwach dafür. Ich habe keine Abwehrkräfte. Ich muss immer aufpassen. Ich muss aufpassen was ich esse, wohin ich gehe, wie viele Leute da sind, ich muss aufpassen wie ich mich bewege – ich darf mich beispielsweise nicht zu schnell bewegen, denn sonst tue ich mir weh. Ich muss auf meine Haut aufpassen und generell auf so vieles achten.
Ich vermisse diese Freiheit, Unbeschwertheit, dass man das machen kann, worauf man Bock hat.
Ich habe alle drei Monate MRT und daher können wir nur im Dreimonatstakt denken. Bestrahlen kann man mich nun nicht mehr, weil das Gewebe um die Wunde herum vernarbt ist und nicht mehr bestrahlt werden kann. Jetzt mache ich noch so lange Chemo, wie mein Körper das verkraftet. Der Tumor wurde zwar herausoperiert, doch die verbleibenden Zellen werden sozusagen immer schlauer. Der Krebs speichert sich die Informationen über die Chemotherapie ab, wird resistent und wächst immer weiter.
Ich überlege jeden Tag, wie ich sterben werde. Wird es qualvoll sein? Wird es wehtun? Was werden meine Mutter und meine Schwester machen, wenn ich gestorben bin? Wie wird es meinen Freunden gehen? Wie wahrscheinlich jeder frage ich mich, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Ich habe Angst vor dem Sterben. Es gibt Tage wo ich sage, ja gut, wenn ich jetzt sterbe, dann ist es ok. Ich sage mir auch, dass wir alle, dass jeder sterben muss und dass es im Prinzip normal ist. Aber es ist natürlich nicht normal, an einer Krankheit zu sterben. So früh. Das ist es, was mir Angst macht. Mir macht nicht der Tod an sich Angst, sondern ich habe einfach nur Angst, dass er so früh kommen könnte. Sehr, sehr früh. Ich wäre froh, wenn der Doktor sagen würde: „Wir haben die Bilder vertauscht, du bist gar nicht krank!”
Ich denke ständig an den Tod. Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe.
Ich wünsche mir, dass man die Bilder von meinem achtzehnten Geburtstag aufhängt oder sie an meine Freunde verschenkt wenn ich tot bin. Auf den Fotos lachen wir zusammen: Meine Freunde, meine Familie und ich. Das sind schöne Erinnerungen.
Was ich auf jeden Fall stärker empfinde als vor der Krankheit ist Dankbarkeit. Ich bin viel dankbarer für alles, ich schätze meine Familie wert und die Zeit mit meinen Freunden. Ich genieße die Geräusche der Natur. Ich fühle jeden einzelnen Sonnenstrahl. Ich nehme die Sonne wahr, den Wind auf der Haut und die Vögel. Ich bin dankbar dafür, dass ich mit Menschen reden kann und nicht tot bin.”
Im Spätsommer 2019 verschlechtert sich Michelles Zustand rapide. Ihre Mutter Simone erfüllt ihr einen letzten Wunsch: Eine Abschiedsfeier für alle, die Michelle wichtig sind. Familie und Freunde kommen, um Michelle noch einmal zu sehen. Sie hält eine Rede, in der sie ihrer Mutter dankt: dafür, dass sie die ganzen Jahre zusammengehalten haben und dass Simone sie bei allen Chemotherapien, Operationen und Untersuchungen begleitet hat.
Michelle verstirbt am 15. Oktober 2019 um fünf Uhr morgens, Simone und Damian sind bei ihr. Ihr Mutter und ihr Freund pflegten sie bis zum Ende zuhause. Die 13-jährige Meggi ist am Morgen des 15. Oktobers bei Simones Nichte Mandy.
Für die sogenannte “Nachthimmelbestattung” fahren Familie und Freunde Ende November in die viereinhalb Autostunden entfernte tschechische Stadt Hrušovany. Michelles eingeäscherter Körper soll mit einer Rakete in den Nachthimmel geschossen werden. In Deutschland ist eine solche Form der Trauerfeier aufgrund des Friedhofszwangs nicht möglich.
Simones Trauerrede:
“Möchtest du ein Hörspiel hören?” Mit halbgeschlossenen Augen nickt sie es ab. “Ich mach dir Herr Fuchs und Frau Elster an. Das hast du als kleines Kind immer so geliebt.” Wieder nickt sie dazu. Sie murmelt unverständliche Worte, es ist mit viel Anstrengung verbunden. Sie zieht an ihrer Decke. Ich decke sie ordentlich zu, achte darauf, dass ihr warm genug ist und sie bequem liegt. Die Medikamente tun ihrer Wirkung, sie laufen unaufhörlich über die Schmerzpumpe in sie hinein. Sie hat keine Schmerzen. Ich fahre das Pflegebett etwas runter damit ich sie erreiche. Ich streichel über ihren Kopf und bemerke wie viele Haare wieder gewachsen sind. Sie riechen gut und sind schön weich. So sehr ich mich auch über ihrer Haarpracht freue, wird die Freude von tiefer Trauer überschattet. Ich wünschte, sie hätte noch einmal ihre Löwenmähne tragen können. Ich gebe Michelle einen dicken Kuss auf die Stirn. “Ich hab dich lieb!”…”Ich hab dich auch lieb Mama!” Das sind die letzten Worte, die ich von ihr zu hören bekam. Man hört in ihrem Zimmer nur ihre schweren aber gleichmäßigen Atemzüge und das Hörspiel. Die Medikamente tragen Michelle weit weg von uns. Sie wandelt schon in der Zwischenwelt. Die Zeit des Wartens beginnt. Michelles Inneres kämpft mit dem Tod. Ich kann ihr nicht helfen, ich kann nur da sein. Meine Gedanken kreisen ohne Ende, ich habe große Angst vor dem was noch passiert.
Michelles Freund Damian reiste schon vor Wochen an. Er brach all seine Zelte in seiner Heimatstadt Borken ab als ich ihm die schlechten Nachrichten überbrachte, dass Michelle nur noch wenige Wochen zu leben hat. Seit einem halben Jahr sind sie ein Paar. Er ist ebenfalls 19 und will sie bis zum Schluss begleiten. Ihre Liebe ist stark. Michelles Krankheit schweißt sie fest zusammen. Michelle liebt ihn über alles, er ist ihr ganzer Halt. Sie hat ihre große Liebe gefunden, sie ist glücklich. Auch ich als Mutter bin sehr glücklich darüber denn er ist ein guter Junge, so anständig, höflich und hilfsbereit. Damian kommt aus einen guten Elternhaus. Seine Eltern, die beiden Brüder und auch die Oma mögen Michelle. Das nenne ich mal Erfolg auf ganzer Linie. Damian und ich verstehen uns wunderbar. Wir können supertolle Gespräche führen und trotz der Situation auch mal lachen. Das alles macht es für uns beide etwas erträglicher. In unserer Familie ist er gut angesehen. Er wird von allen hier geliebt. Seit Wochen pflegen wir zusammen Michelle. Er nimmt mir viel im Haushalt ab, ohne ihn würde ich hier zusammenbrechen. Damian und ich haben in den letzten zwei Tagen sehr wenig gefühlt und fast gar nicht geschlafen. Mein Gott…ich bin so unfassbar müde und erschöpft. Viereinhalb Jahre Krankheit setzen einem zu. Ich bin ausgebrannt. Aber ich kann und darf jetzt nicht schlafen. Abwechselnd schauen wir nach Michelle. Er sitzt an ihrem Bett und streichelt sie. Ich lass die beiden allein. Ich hoffe inständig, dass sie seine Berührungen noch tief im Unterbewusstsein wahrnimmt und sie mit in die Unendlichkeit trägt. Wenn sie doch beide nur mehr Zeit gehabt hätten. Ich könnte weinen bei diesen Gedanken. Es tut mir so unendlich leid für die beiden. Michelle schläft tief und fest und ist nicht mehr ansprechbar….
Wir versammeln uns alle im Wohnzimmer um Myriam. Sie kam vor einigen Tagen zu uns nach Wildau. Myriam wird uns begleiten bis Michelles Zeit abgelaufen ist. So war es Michelles Wunsch. Beide zusammen verbindet die Krankheit. Sie ist Michelles großes Vorbild, sie schaut zu ihr auf. Kaum einer versteht sie so gut wie Myriam. Sie packt mit an wo es geht. Wir führen viele Gespräche über den Sterbeprozess und mit ihr an meiner Seite fühle ich mich etwas sicherer und habe ein bisschen weniger Angst vor dem Finale. Ich bin unendlich dankbar, sie an meiner Seite zu wissen. Sie blieb jeden Abend bis tief in die Nacht hinein und half uns mit bei der Pflege. Michelle und Myriam haben eine besondere Bindung. Sie sieht in ihr eine Ziehtochter, in ihrer rebellischen und manchmal bockigen Art erkennt Myriam sich selbst als Jugendliche oft wieder. Liebevoll nennt sie Michelle ”ihre Zicke”. Es entstand im Laufe der Zeit eine innige Freundschaft. Mit und durch Myriam sah sie in ihren kleinen Leben ein Stück der großen weiten Welt, kleine und große Lebensträume erfüllten sich. Myriam erfüllt schwerkranken Menschen ihre Letzten Wünsche. Sie verlangt nichts dafür, aber sie ist überglücklich wenn sie diesen kranken Menschen ein kleines Lächeln ins Gesicht zaubern konnte und für einen Moment Leid und Schmerz vergessen ist. Diesmal helfen kein Zauber und kein Wunsch mehr. Michelle weiß, dass sie Myriam diesmal zum allerletzten Mal sehen wird. Diese Nacht wird sie es nicht mehr ins Hotel schaffen….
Mandy kommt vorbei, wie die letzten Tage zuvor. Sie berichtet mir kurz wie es Meggi geht und isst mit uns. Meggi hatte ich zu Mandy geschickt. Sie möchte nicht bis zu ihrem Ende dabei sein. Zulange sieht sie schon ihre kranke Schwester vor sich und leidet sehr darunter. Der Gedanke, das Meggi bald ein Einzelkind ist, zerreißt mich innerlich. Ich habe Angst, dass sie den Tod ihrer Schwester nicht verkraftet. Michelles jetziger Zustand setzt Mandy stark zu und doch möchte sie für uns stark sein. Es fällt ihr sehr schwer, sich von Michelle zu verabschieden. Mandy war all die Jahre von Michelles Krankheit da, hat uns immer unterstützt, sowie auch der Rest unserer Familie. Ihr Leitspruch ist immer: ”Blut ist dicker als Wasser.” Unser Familienzusammenhalt ist sehr stark. Immer wieder schauen wir alle nach Michelle. Auch wenn sie schon weit weg von uns ist, sehe ich ihr den Kampf gegen den Tod an. Nach viereinhalb Jahren sind wir nur noch Schatten unser Selbst, ausgebrannt von allem. Was muss das Kind alles ertragen!!! Zurück im Wohnzimmer schaue ich mir Bilder von Michelle an und stelle fest, dass ich mein eigenes Kind kaum widererkenne. “Wer oder was ist das, was dort drüben im Zimmer in diesem Bett liegt”, frage ich die anderen. Alle schütteln mit dem Kopf und können es selbst kaum begreifen. Ich bin so wütend auf diese Krankheit, die mein Kind komplett zerstört hat. Er hat ihr alles genommen. Ihr wunderschönes Aussehen, ihre Zukunft, ihr ganzes Leben.
Es ist schon nach Mitternacht. Mandy verabschiedet sich, sie will früh morgens wieder herkommen nachdem die Kinder in Schule und Kita sind. Stunden später wird sie eine schlechte Nachricht von Myriam auf ihrem Handy lesen…
“Simone…geh doch mal zwei Stunden schlafen”, sagt Myriam und streicht mir über mein Rücken. ”Es bringt doch nichts, wenn du mir hier zusammenbrichst.” Ich bin an Michelles Bett eingeschlafen. Der Kaffee hat seine Wirkung verfehlt, den ich vorher trank. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten, wir sind alle an unseren Grenzen gelangt. Widerwillig begebe ich mich in mein Bett. Damian schläft schon seit kurzer Zeit. Komplett angezogen lasse ich mich auf mein Bett fallen. Myriam bleibt noch kurz bei Michelle und will dann auch mal ein paar Stunden ins Hotel fahren zum Schlafen. Ich schaffe es noch mir den Wecker auf zwei Stunden später zu stellen und schlafe daraufhin ein. Es ist nicht mein Wecker, der mich wach macht, sondern Myriam. “Simone du musst schnell kommen!!!” ruft sie an mein Bett stehend. Ich springe auf, mir dreht sich alles. Ich laufe ihr schnell in Michelles Zimmer hinterher. Ich habe es zum Glück noch rechtzeitig geschafft bei ihr zu sein. Zu diesem Zeitpunkt hat schon Michelles Puls in Myriams Händen aufgehört zu schlagen und die Atmung hatte schon ausgesetzt. Weinend nahm ich Michelles Gesicht in meine Hände, sie holte noch einmal Luft und dann ging sie von uns.
Gestützt von Myriam und Damian, ließ ich den Tränen freien Lauf. Wir zündeten die Kerzen an und öffneten weit das Fenster. Nie wieder Schmerzen, nie wieder Behandlungen. Ich habe mein Versprechen von vor über 4 Jahren eingehalten. “Ich lasse dich niemals allein. Wir ziehen das gemeinsam durch, vom ersten Schritt bis zum letzten Atemzug.” Michelle du bist jetzt FREI!!!
Unsere Reise hat nun hier ein Ende gefunden, auch wenn es für uns kein erhofftes Wunder gab. Wir haben aus einer schlechten Sache etwas Positives gemacht. Unser Band als Mutter und Tochter hat uns fest zusammen geschweißt. Familie und Freunde haben uns immer bei allem unterstützt. Wir haben Menschen kennengelernt, die zu Freunden wurden. Wir durften Dinge erleben, die nicht selbstverständlich sind. Unsere letzten vier Jahre bestanden aus Überraschungen, Abenteuer, Freude, Liebe und Leid. Und doch haben wir es geschafft, ein Stück vom Ganzen zu leben und wir, die Michelle hinterlassen hat, wir werden weiterleben. Wenn nicht heute oder morgen aber dann irgendwann. Ich weiß, dass die Bilder und Erinnerungen an Michelle bleiben werden. Jeder von euch trägt sie mit sich im Herzen, tief und sicher verwahrt. Wenn die Menschen auch sterblich sind, die Geschichten, die wir mit ihnen erlebt haben, die sterben nicht. Michelle wird immer bei uns sein, wir werden sie niemals vergessen. Ein Teil von meinem Herzen wird für immer fehlen. Niemals wird man es reparieren können. Diagnose… UNHEILBAR!!!!!!!!!! In Liebe und Dankbarkeit deine Mama.”
Fotos: Gregor Zielke Text: Annika Seiffert