“Wenn man den ganzen Tag auf so einer Station arbeitet und sieht, welche Sorgen man eigentlich haben kann, aber mit der eigenen Familie nicht betroffen ist, dann geht man abends nach Hause und denkt: “Müssen wir uns jetzt wirklich über diese Lappalie aufregen? Oder ist das im Vergleich zu dem, was andere Menschen an Belastungen im Alltag haben nicht eher lächerlich?” Ich glaube, es hilft, die Probleme in die richtige Schachtel zu packen und zu unterscheiden, was ist ein echtes und was ist nicht wirklich ein Problem.”
Prof. Dr. Angelika Eggert wollte immer mit Kindern arbeiten. Mit dem Ziel, Kinderärztin zu werden, begann sie Medizin zu studieren. Während des Studiums merkte sie, dass Onkologie das Fachgebiet ist, das sie am meisten interessiert. Als Direktorin der Klinik für Pädiatrie m.S. Onkologie und Hämatologie an der Berliner Charité verbindet sie die Arbeit mit Kindern und ihren Familien und ihre medizinische Expertise.
“Krebs bei Kindern ist ein Familienaspekt, das heißt: Von der lebensbedrohlichen Erkrankung ist die ganze Familie betroffen und muss auch mit behandelt werde. Die Eltern haben einen großen Informationsbedarf, denn sie haben eine andere Art mit der Erkrankung umzugehen als der Patient selber und diese unterschiedlichen Arten muss man beachten und unterschiedlich bedienen. Die größte Herausforderung für uns ist die Kommunikation auf verschiedenen Ebenen. Zum Beispiel, wenn der jugendliche Patient etwas anderes will als seine Eltern. Das finde ich nach wie vor am schwierigsten zu vermitteln. Das haben wir manchmal: Wenn wir tatsächlich in der Therapie schon alle Register gezogen haben und es hat nicht funktioniert und der jugendliche Patient sagt: ‘Ich will jetzt einfach nicht mehr und ich kann jetzt einfach nicht mehr’, kann das aber seinen Eltern gegenüber nicht vertreten und nicht rüberbringen, weil er sieht, sie machen sich Sorgen und können nicht loslassen. Das ist eine kaum zu lösende Konfliktsituation, weil die Eltern, mit dem Tod des Kindes die nächsten 50 Jahre weiterleben müssen und für ihre Trauerarbeit das Gefühl wichtig ist, alles was medizinisch möglich war, auch getan zu haben.
Natürlich ist der Patient derjenige, der bei uns im Interessensmittelpunkt steht und wir müssen uns an ihm orientieren. Aber die Familie muss hinterher auch damit weiterleben können. Und dazwischen zu vermitteln, dass beide Interessen zu ihrem Recht kommen, ist für mich immer noch in der Kommunikation die schwierigste Situation – und die haben wir leider nicht ganz selten. Ein Patient nimmt die Qualität der Medizin vorwiegend über die Kommunikation war oder auch über den Service und kann die Medizin an sich schlecht bewerten. Auch unsere Patienteneltern bewerten eben diese Dinge. Das vor allem den jungen Kolleginnen und Kollegen zu vermitteln, ist gar nicht so einfach. Sie verstehen die Bedeutung der Kommunikation und deren Wirkung anfänglich noch nicht. Damit meine ich nicht nur die Ärzte, sondern auch die Pflege – das muss man immer wieder und immer neu vermitteln. Denn die Medizin und die Pflege an sich ist nicht alles, sondern zum Komplettpaket der Betreuung gehört vor allem auch die Kommunikation.
Eine hohe Sensibilität ist notwendig um wahrzunehmen, dass unterschiedliche Familienmitglieder und unterschiedliche Patienten einen ganz unterschiedlichen Bedarf haben, wie und was kommuniziert wird. Das ist ja auch eine Frage der Sprachebene: Wir haben unterschiedliche Ansprechpartner, da kann ich nicht bei allen mit intellektueller Sprache kommen oder gar medizinischen Fachausdrücken kommen. Die Eltern und der Patient müssen mir folgen können und die Sprache darauf zu reduzieren und zu konzentrieren, das kann nicht jeder. Das ist in der Medizin den jungen Kolleginnen und Kollegen auch am schwierigsten beizubringen, egal wie gut sie alle medizinisch durch ihr Studium trainiert sind.
Das ist ein Manko in unserer medizinischen Ausbildung. Ich glaube, auf den Anspruch einer exzellenten Medizin ist jeder vorbereitet. Jeder nimmt als gegeben hin, dass man sich da weiterbilden muss. Aber im Studium und auch in der Facharztweiterbildung bilden wir in puncto offene verständliche Kommunikation immer noch zu wenig aus. Ich habe gerade für die European School of Oncology eine Masterclass mitgestaltet, und wir hatten zum ersten Mal auch das Thema ‘Breaking bad news’. In Rollenspielen haben wir geübt, wie eine schlechte Nachricht am besten überbracht werden kann: Ein Rezidiv oder eine nicht mehr bestehende Heilungsaussicht. Und obwohl die meisten teilnehmenden Mediziner aus unterschiedlichen europäischen Ländern in ihrer Karriere schon etwas fortgeschrittener waren, haben sie berichtet, dass sie so etwas nicht in ihrer Ausbildung hatten. Dass wir ‘Kommunikation’ immer noch nicht zu einem zentralen Thema machen, das ist, glaube ich, wirklich immer noch ein europaweites Defizit im Medizinstudium.
Man lernt erst im Laufe der Zeit, dass man niemals die letzte Hoffnung nehmen darf. Wir denken ja immer: ‘Wir sind ganz modern, transparent, man ist dem Patienten die Auskunft schuldig, wie realistisch und statistisch sind die Chancen’. Das ist richtig, einerseits. Andererseits vergessen wir dabei wie furchtbar das ist, wenn da nicht noch eine Tür irgendwo offen gelassen wird. Ich versuche immer ein bisschen Balance in diese Gespräche zu bringen. Der Schock ist für alle groß, wenn die hier reinkommen und wir sagen: ‘Es tut mir leid, ihr Kind hat Leukämie, hat Krebs’. Das muss man mit einer weiteren Botschaft verbinden, nämlich: ‘Wir haben viel Erfahrung damit, bei uns sind sie gut aufgehoben’ oder ‘das hat eine sehr gute Heilungsrate’, wenn es denn eine hat. Man darf das nicht sagen, wenn das nicht der Fall ist. Dann muss man in der Kommunikation Ziele vermitteln, zum Beispiel: ‘Unser erstes gemeinsames Ziel ist jetzt, dass dieser Tumor kleiner wird oder die Zellen sich reduzieren’. Man muss also genau gucken und hinhören, denn wenn man mit jeder transparenten Botschaft die Leute am Anfang überfällt, das ist nicht zu bewältigen. Aber zum Glück bestehen statistisch gesehen 81 Prozent Chancen auf Heilung. Das ist erfreulich.
Was man sich nicht klar macht: Das, was wir als pädiatrische Onkologen tun, ist wesentlich aggressiver als das, was in der Erwachsenenmedizin stattfindet. Man denkt immer, dass die kleinen Kinder empfindlicher sind. Aber eigentlich ist es so, dass die Organsysteme bei einem kleinen Kind viel frischer sind: die Niere, die Leber, das Herz. Die Organe vertragen sehr viel Therapieaggressivität und darum sind wir in der Heilungsrate auch so gut. Wir können viel aggressivere Chemotherapien verabreichen. Wenn wir einem Erwachsenen pro Kilogramm Körpergewicht das geben würden, was wir einem Kind geben, würde er an den Nebenwirkungen versterben, weil sein Körper das nicht verarbeiten kann. Wir sind aggressiver unterwegs mit allem, was wir machen. Daher müssen wir natürlich auch besser aufpassen, weil natürlich auch mehr Nebenwirkungen und Komplikationen da sind als bei einer milderen Therapie. Aber so erkämpfen wir uns eben die guten Heilungsraten für die Kinder.
Die Idee, die hinter Clowns im Krankenhaus und Kliniken, steckt, kannte ich schon, bevor ich an der Charité angefangen habe und ich erlebe die Besuche der Clowns als durchweg positiv – so wie ich es auch bei den Kindern beobachte. Es ärgert mich daher immer, wenn ich einige Mitglieder unseres Teams erst von der Sinnhaftigkeit überzeugen muss. Ich glaube, mit der Qualität und Breite unseres medizinischen Angebots können wir kaum optimaler sein, aber zum Heilungsprozess gehören ja auch das Wohlfühlen und das Helfen bei der Bewältigung der Gesamtsituation dazu. Klar kann man mit reiner Medizin auch etwas erreichen. Aber da wäre der Preis, mit dem man sich die Heilung erkauft, eben noch höher, weil die Zeit dann furchtbar ist, die man im Krankenhaus verbringt.
Ein großes Problem ist tatsächlich, wenn Eltern nicht loslassen können. Wenn zum Beispiel eine Knochenmarkstransplantation nicht erfolgreich war und es keinen sinnvollen Weg mehr gibt zu therapieren, dann muss man das kranke Kind auch beschützen. In dieser Situation kann und darf nicht eine experimentelle Therapie nach der anderen aus dem Hut gezaubert werden, wie sie nicht mehr erfolgversprechend ist und das sich Kind nur noch durch mehr Nebenwirkungen quält. Da ist es wichtig, dass die Eltern die unheilbare Situation verstehen lernen, so furchtbar schwer es auch für sie ist. Sonst kann das schon sehr erstaunliche Formen annehmen. So hat mich eine Familie ernsthaft gefragt, ob wir nicht ihr Kind klonen können. Ich kann verstehen, dass der Gedanke, dass das eigene Kind stirbt, eigentlich gar nicht denkbar oder auch nur irgendwie zu verarbeiten ist. Aber dass man sich dann mit solchen Ideen auseinander setzt, das hat mich wirklich erschreckt. Ein Mensch ist ja kein Ersatzteillager. Ein Kind, ein Mensch, ist und bleibt immer einzigartig und kann nicht ersetzt werden. Und manchmal können wir den schicksalhaften Verlauf einfach auch mit aller medizinischen Kunst nicht aufhalten.
Ich habe früher mal gesagt, wenn ich in Rente gehe, möchte ich erreichen und erlebt haben, dass zum Beispiel beim Hochrisiko-Neuroblastom (eine Krebserkrankung des Nervensystems, die häufiger bei kleinen Kindern auftritt) die Heilungsrate, die im Moment nur bei 40 Prozent liegt, dann bei 80 Prozent liegt. Das ist erst mal ein wissenschaftliches Ziel, das man nicht in zwei Jahren erreichen kann, aber ich habe ja noch ein bisschen Zeit bis zur Rente.”
Fotos: Gregor Zielke Text: Sou-Yen Kim